Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Kammgarnfabrik prägend für ganz Möllersdorf, wie man auch anhand der ehemaligen Arbeiterwohnungen entlang der Wolfstraße heute noch sehen kann. Ihre Dissertation über die Kammgarnfabrik hat Ulla Fischer-Westhauser geschrieben. Bei der Auftaktveranstaltung gab sie in ihrem Vortrag Einblicke in die Geschichte der Kammgarn.
Die Aktiengesellschaft der Vöslauer Kammgarnfabrik war im 19. und 20. Jahrhundert eines der größten Textilunternehmen Österreichs. Die Zentrale befand sich in Bad Vöslau, die Gesellschaft unterhielt fünf Zweigwerke, das größte davon befand sich ab 1877 in Möllersdorf. Alle anderen Werke waren in angrenzenden Ländern der Monarchie untergebracht: in Leitmeritz, Böhmen (ab 1907), in Bielitz-Biala, Oberschlesien (ab 1909), in Brünn, Böhmen (ab 1913) und nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchien ab 1934 in Sopron, Ungarn.
Josef Mohr gründete 1824 die Baumwollspinnerei Möllersdorf, die 1871 zu einer Schafwollkammgarnspinnerei umgebaut wurde. Im wechselnden Auf und Ab über zwei Weltkriege hinweg bestand sie bis 1976. Ein Blick in die Personalpolitik der Kammgarn zeigt, dass es 200 Jahre gebraucht hat, um gewisse Strukturen zu verändern – die aber bis zu einem gewissen Grad heute noch bestehen. Vor allem Frauen waren hier beschäftigt und bedienten die Maschinen. Die Führungsriege war ausschließlich männlich, auch als Meister. Es waren viele Ehepaare in der Fabrik beschäftigt, wobei die Männer wesentlich mehr verdienten als die Frauen – und zu Zeiten der Kinderarbeit die Frauen etwas mehr als die Kinder. Als Gewerkschaften entstanden, hatten sie nicht vor, dies zu ändern. Männer wurden als Hauptverdiener betrachtet, Frauen als Zusatzverdienerinnen.
Auf der einen Seite bot man den Arbeiterinnen und Arbeitern leistbare Wohnungen, auf der anderen Seite war man bestrebt, die Mitarbeiter unter Kontrolle zu halten. Bei Veranstaltungen, die für die Kammgarnfabrik organisiert wurden, konnte man leicht jemanden einschleusen, der zuhörte. Der Kammgarnsaal wurde 1949 errichtet, für die Arbeiterinnen und Arbeiter gab es bei Geburtstagen kleine Präsente von der Firmenleitung.
An viele Geschichten von anno dazumals erinnerten sich auch die fünf Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die in einem Schulprojekt von der HLA Baden von 12 Schülerinnen und Schüler befragt wurden.Die Schüler führten die Interviews mit der Unterstützung ihres Lehrers Ingo Tarmann und hielten sie mit der Kamera fest. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Besucher:innen waren von den Interviews begeistert. Unter den Befragten waren Elsa Franta, ehemals im Lohnbüro tätig, der Ur-Möllersdorfer Günther Gutmann, der als HTL-Schüler hier ein Ferialpraktikum absolvierte, Margit Keet, die Tochter des ehemaligen Portiers der Kammgarnfabrik, Gerda Pernik, die in der Einlegerei arbeitete, und Otto Pfleger, der seine Lehre hier begann.
Unvergessen für Pernik war der krumme Rücken ihrer Mutter, die schon in der Kammgarnfabrik gearbeitet hatte. 17 Schilling bezahlten die Zeitzeugen im Schnitt für ihre ersten Wohnungen in der Wolfstraße. Sie war 1969 in die Kammgarnfabrik eingetreten mit einem Monatsbruttolohn von 2.400 Schilling. „Ich darf das nicht in Euro umrechnen, was das heute für ein Betrag wäre“, sagte Franta. Im Dezember 1974 verdiente sie 5.200 Schilling. Der Durchschnittslohn der Männer betrug allerdings 3.800 Schilling, jender der Frauen 2.000 Schillinge. „Freilich hat man das gewusst, es haben ja viele Ehepaare hier gearbeitet“, erzählte Gerda Pernik.
Der Zweite Weltkrieg war eine einschneidende Zäsur für das Werk. Ein Teil der Hallen wurde dafür verwendet, um hier Flugzeugteile für die Wiener Neustädter Flugzugwerke zu produzieren. Aufgrund der komplexen Eigentümerverhältnisse – ein Teil gehörte dem Bankhaus Rothschild – wurde die Kammgarnfabrik nie deutsches Eigentum und später auch nie ein USIA-Betrieb der Sowjets.